Nachlese

Unsere 2. Fachtagung „Die Demokratisierung der Lust“ war ein großer Erfolg. Eingebettet in Kurzfilmen des Queer Access Filmfestivals und der Veranstaltungsreihe „Teilnehmen statt Teilhaben!“ diskutierten wir über sexuelle Rechte und deren historischen Entwicklung, stellten persönliche Erfahrungen zur Behinderung bei der Ausübung der Sexualität und verschiedene Aspekte dieses sehr tabuisierten Themas vor.

Die Demokratisierung der Lust

Lust ist mit Macht verbunden – mit Macht über sich selbst und auch damit, dass sie ein Privileg darstellt. So wird bestimmten Personengruppen die Respektierung ihres erotischen Wertes verweigert, die Ausübung ihrer Sexualität als schädlich definiert und reglementiert. Das wird zum Beispiel bei alten und behinderten Menschen deutlich, aber auch bei Prostituierten.

Emanzipatorische Bewegungen schufen in den letzten 50 Jahren neues Bewusstsein, andere Werte und entsprechendes politisches Handeln. Sie sind undenkbar ohne die sexuelle Befreiung, in deren Zuge auch über die Ermöglichung von Sexualität für alte und behinderte Menschen, u.a. auch durch Sexarbeit nachgedacht wird.

Sexualität als Menschenrecht und nicht als Privileg ist die Basis der Demokratisierung der Lust. Demokratisierung bedeutet Veränderung der Machtverhältnisse von der Machtausübung einzelner (Gruppen) zu Machtausübung Vieler.

Mit der Veranstaltungsreihe „Teilnehmen statt Teilhaben“, die vom 24. August bis 16. September 2018 lief, bot sich unkompliziert die Gelegenheit, kurzfristig die Ergebnisse der Vorarbeit zur Organisation der Bundestagung im Format von 2 Talkrunden umzusetzen, die zusammen mit dem Queer Access Film Festival am 30. und 31. August 2018 von 15:00 bis 22:00 Uhr stattfanden.

In einer ersten Talkrunde entfalteten Stephanie Klee (Sexarbeiterin und politische Aktivistin), Dr. Martin Theben (Anwalt) und Matthias Vernaldi (Sexualberater) das Thema eher theoretisch; und in einer zweiten, ausführlicheren, wurde es konkret dargestellt.

Konzipiert war eine direkte Teilnahme des Publikums, also das direkte unmittelbare Einbringen von Statements, Meinungen und Fragen. Das hat allerdings nicht in dem Maß funktioniert wie angedacht. Die Moderation und die Referent*innen wurden kaum unterbrochen. Allerdings war das nicht der Langeweile oder dem Desinteresse geschuldet. Vielmehr vermittelte sich der Eindruck, dass das Publikum bis zum Ende hin den Vorträgen bzw. Gesprächen auf dem Podium gebannt folgte.

Das Thema „Demenz und Sexualität“ wurde von Carol Wilhelm, Leiterin  zweier Altenpflegeeinrichtungen, und Stephanie Klee, die als Sexarbeiterin schon seit einigen Jahren Kunden mit Demenz besucht, abgehandelt.

Dass auch heute schon in Altenpflegeeinrichtungen ein offener und bewusster Umgang mit den sexuellen Bedürfnissen der Bewohner*innen möglich ist, war den meisten im Publikum nicht bewusst, erst recht nicht, wie wichtig gelebte und erfahrbare Sexualität für hochaltrige, erst recht für demente Menschen ist. Stephanie Klee stellte einige, natürlich anonymisierte Fälle aus ihrem Kundenkreises vor.

Die sehr ungewöhnlichen Erfahrungen von Katja Alekseev aus Köln, einer jungen muskelkranken Frau, stießen erst recht auf großes Interesse. Wenn sie mit ihrem ebenfalls muskelkranken Partner Sex haben wollte, musste sie die Hilfe von zwei Sexualassistent*innen beanspruchen. Sie bloggte darüber und auch jetzt (sie ist wieder Single) schreibt sie über ihre Wahrnehmung von Sexualität.

Ed Greve thematisierte den Umgang mit Behinderung und Transidentität vor allem in der Sexualpädagogik.

Die Talkrunden fanden im Wechsel mit der Vorführung der Filme des Festivals statt. Das Publikum des Filmfestivals fand sich in den Talkrunden genauso wie das Publikum der Talkrunden sich die Filme ansahen. Es nahmen etwa 70 Personen teil.

Ohne die finanzielle Förderung von Aktion Mensch und dem paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin hätte die besondere Veranstaltungsreihe nicht stattfinden können.

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Als Abschluss unserer 1. Fachtagung legen wir nun den Reader vor. Er kann bei uns bestellt werden.
Er gibt nicht nur die Beiträge aller Referenten wieder, sondern verschafft auch einen Eindruck über die diversen Diskussionen und das ungeheure Wissen und Praxisbezogenheit der TeilnehmerInnen. Darüber hinaus wird im Resümee eine erste Bilanz des Ist-Zustandes gezogen und Forderungen an eine Veränderung der Heimstrukturen  gestellt, besonders in Bezug auf Schaffung von privaten Räumen als akzeptierter Rückzugsraum für Erotik und Sexualität, aber auch mit Fortbildung zu Sexualpädagogik und dem Bilden einer gewissen emanzipatorischen, rechtebasierten Haltung der MitarbeiterInnen.

DeckblattReader

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Mit seiner Tagung am 11. Oktober im Roten Rathaus in Berlin thematisierte move e.V. – Verein für Bildung und Kommunikation in der Sexarbeit – Sexualität für Bewohner in Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe.

Zur Eröffnung gab es eine Performance von Marie Golüke und Roland Walter. Während ein Text des durch eine spastische Lähmung behinderten Künstlers über sein Begehren und seine Unsicherheiten und Verletzungen gelesen wurde, kämpften die nichtbehinderte Frau und der behinderte Mann auf dem Boden im Zentrum des Tagungsraums um Annäherung und Vereinigung. Es gelang erst, als sie sich seine Kleidung anzog. (Bericht über Roland Walter und seine Performance: mdr-Reportage, Tanz gegen die Schwerkraft – https://vimeo.com/185693107)

Dr. Alfred Pauls, Mediziner und Sexualwissenschaftler aus Berlin verwies im ersten Vortrag der Tagung auf die drei Dimensionen der Sexualität: die der Fortpflanzung, die der Beziehungen und die der Lust, wobei er die der Beziehungen gründlicher aspektierte. Hierbei ginge es nicht nur um Nähe und Vertrautheit, sondern umgekehrt auch um Distanz, Abgrenzung und Ausschluss. Normsetzungen und selbst Tabus spielten weiterhin eine bedeutsame Rolle.

Die Hamburger Psychotherapeutin Margret Hauch warf Schlaglichter auf die verschiedenen Lebensphasen. Der Hinweis, dass in vielen sexualwissenschaftlichen Erhebungen behinderte Menschen bisher nicht vorkamen, war für die meisten nichts Neues, die Tatsache, dass bei einer erst kürzlich stattgefundenen Befragung von Jugendlichen rund um den ersten Geschlechtsverkehr sich behinderte Jugendliche nicht sonderlich von ihren nichtbehinderten Altersgenossen abhoben, dann aber doch. Die Zeiten, als behinderte Menschen als asexuelle Wesen behandelt wurden, scheinen tatsächlich vorbei. Für durch das Alter pflegeabhängig gewordene Menschen sieht das noch anders aus. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Pflege zum Großteil von Angehörigen erbracht wird – wenn nicht vom Partner, dann von Töchtern und Schwiegertöchtern. Wichtig seien in diesem Zusammenhang auch die Geschlechterrollen. Einem Mann wird z.B. im hohen Alter noch eher Sex zugestanden als einer Frau.

In einem zweiten Block berichteten Stephanie Klee, Sexualbegleiterin, und Matthias Vernaldi, Sexualberater von ihrer Arbeit. Stephanie Klee erzählte, dass Kunden, die sie als Prostituierte über viele Jahre hinweg regelmäßig buchten, sie auch im hohen Alter noch treffen wollten. Deshalb besuchte sie sie zunächst zuhause und später dann auch im Pflegeheim. Dort musste sie sich oft als entfernte Verwandte ausgeben. Erst in jüngster Zeit gibt es allmählich einen offeneren Umgang. Der Bedarf sei viel größer als angenommen. Vor allem demente Menschen benötigten Sexualität, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Sie würde es begrüßen, wenn in Altenpflegeeinrichtungen ähnlich wie beim Friseur oder der Fußpflege die Besuchszeiten der Sexualbegleiterin aushingen.

Matthias Vernaldi betonte, dass ein Hauptproblem für Menschen, die in Einrichtungen leben müssen, ihre totale Abhängigkeit von den Personen, die ihnen die Hilfe erbringen, und der Struktur, in der das geschieht, ist. Sexualität sei auch ein Faktor der Selbstbestimmung und des Empowerments. Wenn sie von vornherein auch noch fürsorglich mit Sexualität versorgt würden, wäre das wieder eine Form eines von der Einrichtung vorgegebenen Lebens. Allerdings müssten wohl Unterschiede gemacht werden zwischen Alten, die ihr Leben bereits geführt haben, und Behinderten, die ausschließlich die Einrichtung kennen. Viele Bewohner von Einrichtungen der Behindertenhilfe sprächen in der Beratung über ihre große Sehnsucht nach Partnerschaft und ein Leben in einer Beziehung, mit Job, Kindern und Haus. Am Ende komme aber erst einmal nur die Inanspruchnahme einer sexuellen Dienstleistung heraus. Auch hier machten sie dann noch die Erfahrung, dass viele Sexworker sie wegen ihrer Behinderung als Kunden ablehnten.

Im dritten Teil sprach Rainald Purmann, Leiter des Fachbereichs Behindertenhilfe beim paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, von Hemmnissen der Entwicklung. Es würden zwar schon zwei Jahrzehnte lang die Rechte auf Sexualität und Privatheit erkannt und entsprechende Konzepte für die Einrichtungen entwickelt, trotzdem ändere sich an der Realität der Bewohner wenig. Das hätte zum einen mit der Zähigkeit der Hilfestrukturen zu tun, hauptsächlich aber mit dem zunehmenden Kostendiktat. Die Situation von Bewohnern von Einrichtungen habe sich insgesamt verschlechtert. Umso Mut machender waren dann die Beispiele, die Bettina Stange vom Stephanus-Seniorenzentrum, Berlin, darbot. Sie zeigten, dass es möglich ist, die Sexualität alter und dementer Menschen ernst zu nehmen und auch in problematischen Situationen einen Umgang zu finden, der den Betroffenen entspricht. Auch aus dem Publikum waren von Mitarbeitern von Einrichtungen und Sexworkern ähnliche Schilderungen zu hören. Von behinderten Teilnehmern wurde darauf verwiesen, dass es keine direkte Beteiligung von Menschen, die in Einrichtungen leben müssen, gab. Die Gefahr sei groß, dass die „Fachleute“ wieder einmal zu Ergebnissen kämen, die den Betroffenen nicht entsprächen.

Die Verfügung der Bewohner von Einrichtungen über ihre Bedürfnisse und Belange ist der wichtigste Punkt, den die Veranstaltung gezeigt hat. Die Einrichtungen müssen Konzepte entwickeln, die diesen Verfügungsraum schützen und ausweiten. Dazu gehört auch ein sexualpädagogisches Konzept, welches mittlerweile in Einrichtungen der Behindertenhilfe üblich ist. In Einrichtungen der Altenhilfe müsste über etwas Ähnliches nachgedacht werden.

Die Tagung bekam ihre Besonderheit durch die häufige und vielfältige Beteiligung der Teilnehmer. Es herrschte trotz einer Teilnehmerzahl von 85 Personen Leuten eine sehr angeregte und offene Gesprächsatmosphäre. Viele Wortmeldungen von Sexarbeitern und Mitarbeitern von Einrichtungen beeindruckten durch ihre Direktheit und ihr Engagement.

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Presseberichte + weiterführende Infos:

26. 01. 2016: Wirtschaftsbrief Gesundheit
In seiner 58. Ausgabe stellt das online-Magazin „Wirtschaftsbrief Gesundheit“ fest:
Markt ohne Zahlen: Sexualassistenz in der Pflege rückt in das Blickfeld

Artikel zum Wirtschaftsbrief_Gesundheit_058_26012016_Seite_3

10. 07. 2015: Berliner Zeitung
Mitleid wäre ein schlechter Motor

Die Sexualassistentin Nina de Vries über professionelle Zärtlichkeit mit behinderten Menschen, den Unterschied zur Prostitution und die Bedeutung von Sinnlichkeit und Berührung.

Artikel zum Weiterlesen: Berliner Zeitung 10. 07. 2015

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04. 05. 2015: neues Deutschland – Tagesthema: Sexuelle Assistenz

„Der Wunsch ist da, aber auch die Möglichkeit? Sex in Einrichtungen für Behinderte oder im Seniorenheim? Ein Thema, auf dem viele Tabus lasten. Das will Stephanie Klee ändern – sie ist Sexualbegleiterin mit sozialem und therapeutischem Anspruch.“

Artikel zum Weiterlesen: NeuesDeutschland04.05.15

Febr. 2015: Einer der besonderen Filme, der auf der Berlinale gezeigt wurde, war Die Menschenliebe im Rahmen der Perspektive Deutsches Kino; ein Dokumentar-/Biographiefilm, der zwei behinderte Männer vorstellte, die um ihre Selbstständigkeit und Eigenständigkeit kämpften und gegen eine Entmündigung und Einschränkungen ihres Umfeldes und einer Gesellschaft, die sie gern zu „ewigen Kindern“ abstempelt. Beide sind starke Persönlichkeiten und wollen – besonders auf sexuellem Gebiet – ernst genommen werden – ohne Wenn und Aber….und ohne Heiligenschein. Inklusion halt!
Starke Protagonisten – ein starker Film.

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SRF – Schweizer TV + Radio:

Sexualbegleitung – Berührungen für

Menschen mit Behinderung

  •      Freitag, 31. Januar 2014, Olivier Del Fabbro – Interview mit Erich Hassler
  •     Für behinderte Menschen ist es oft schwierig, die sexuellen Bedürfnisse zu befriedrigen. Deshalb gibt es ausgebildete
    Sexualbegleiter. Sie bieten ihren Körper und zuneigung an, und werden dafür bezahlt. ist das etwas anderes als gewöhnliche
    Prostitution? Ein Sexualbegleiter erzählt.
Bildlegende: Sexualbegleiter bieten Menschen mit Behinderung Begegnungen und Zeit. Getty Images

Auch Behinderte haben sexuelle Bedürfnisse: Auf dieser Grundhaltung basiert das Angebot der Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderung. «Behinderung und Sexualität ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu-Thema», erklärt Erich Hassler. Behinderte Menschen würden als asexuelle Wesen betrachtet. Erich Hassler ist ausgebildeter Sexualbegleiter für behinderte Menschen und arbeitet am ISBB, das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter, in Zürich. Wenn es einen Bedarf nach sexueller Nähe gibt, bietet er seine Dienstleistungen an.

Körperliche Befriedigung und psychische Hilfe

Dass der Sexualbegleiter nicht nur körperliche Befriedigungen, sondern auch psychische Probleme lösen kann, davon ist Erich Hassler fest überzeugt. «Ich war schon fünf Mal bei einer körperbehinderten Frau, die im Rollstuhl sitzt. Sie wurde, als Behinderte, vor ein paar Jahren vergewaltigt und danach im Schnee liegen gelassen. Hätte man sie nicht gefunden, wäre sie erfroren. Seit diesem Vorfall hat die Frau psychische Probleme und muss in psychologische Behandlung. Sie konnte und wollte sich von keinem Mann mehr berühren lassen. Vor kurzem hat sie mir gesagt, dass unsere Begegnungen ihr viel helfen würden: Sie habe wieder Vertrauen gewinnen können, Vertrauen, dass es wieder jemanden geben kann, der sie gewaltfrei berührt.»

Sexualbegleiter kann nicht jeder werden, und auch nicht von heute auf morgen. Der Sexualbegleiter muss eine längere Ausbildung absolvieren, bestehend aus mehreren Seminaren. «Wir beginnen mit einem allgemeinen Informationstag. Die Auszubildenden müssen einen Fragebogen ausfüllen und das Ausbildungsteam nimmt sich das Recht, zu entscheiden, ob eine Person geeignet ist für die Ausbildung oder nicht. Es ist oft ein negatives Ausschliessen: Beispielsweise wenn wir merken, dass eine Person mit Helfersyndrom etwas für sich gewinnen will.»

Kein Vorspielen von Illusionen

Erich Hasslers Beruf trifft nicht immer auf Verständnis. Immer wieder wird er gefragt, wie sich seine Sexualbegleitung von gewöhnlicher Prostitution unterscheide. «Rechtlich gesehen gar nicht, weil wir Geld bekommen für eine sexuelle Dienstleistung,» so Hassler. «Aber im Gegensatz zur gewöhnlichen Prostitution verzichten wir auf das Vorspielen von Illusionen: Wir sehen den Behinderten nicht als Kunden, den wir mit unseren Dienstleistungen an uns binden müssen, damit er wieder kommt.»

Auch würden Sexualbegleiter keine einzelnen sexuellen Akte verkaufen, die dann je nach Angebot verschiedene Preise haben. «Was wir verkaufen sind Begegnungen, ist Zeit. Und dies geschieht nur nach Absprache. «Ausserdem probieren wir gemeinsam mit den Behinderten zu reflektieren, indem wir auch mit ihnen sprechen, wie in einer Beziehung. Es geht um einen gefühlvollen Austausch.» Die Begegnung mit dem Behinderten werde prinzipiell als Surrogat-, als Ersatzpartnerschaft betrachtet.

Eventuelle Bevormundung durch Dritte

Deswegen sei auch die vielgestellte Frage, ob der Sexualbegleiter Geschlechtsverkehr anbietet, nicht mit Ja oder Nein zu beantworten. Geschlechtsverkehr sei nicht ausgeschlossen, der Sexualbegleiter habe aber immer die Möglichkeit, die Ausführung eines Wunsches zu verweigern. «Es gibt auch welche, die grundsätzlich keinen Geschlechtsverkehr anbieten.»

Komplizierter wird das Thema, wenn geistig behinderte Personen die Dienste der Sexualbegleiter entgegennehmen. Oftmals sind es die Eltern oder die Pfleger, die um Rat oder um eine Sexualbegleitung bitten. Kann hier noch die Rede von Selbstbestimmung sein? Hassler gibt zu, dass diese Situation nicht einfach ist: «Wir wissen dann selbst nicht, ob der Behinderte das überhaupt will. Der Sexualbegleiter muss eine eventuelle Bevormundung durch Dritte selbst einschätzen können.»

Ganz schwierig sei, wenn jemand nicht sprechen könne. Oder beispielsweise bei Autisten, bei denen auch das Berühren vorsichtig sein muss. Grundsätzlich habe aber jeder Behinderte irgendeine Art oder Methode der Kommunikation, um ein Ja oder ein Nein auszudrücken. «Ausserdem spüren wir, ob eine Berührung gut oder schlecht ist für unser Gegenüber.» Oft komme es auch erst nach der vierten oder fünften Begegnung zu Körperkontakt. «Das ist meistens nur eine leichte und subtile Berührung, mehr nicht. «Einmal habe ihm ein Mann ins Gesicht gespuckt. «Da wusste ich, das ist ein klares Nein.»

Es könne aber auch vorkommen, dass die Behinderten sich mehr wünschten: Sie verlieben sich in den Sexualbegleiter. Hassler ist sich dessen bewusst. «Wir können die Behinderten nicht vor dem Leben schützen. Auch Nichtbehinderte haben Liebeskummer. Wir engagieren uns einfach für Menschen, die unsere Dienste brauchen und wollen.»

Freitag/Christopher Piltz, 10.12.2013

Mit aufs Zimmer

Gekaufte Nähe Pflegebedürftige haben auch sexuelle Wünsche. Die Arbeit von Prostituierten in Heimen ist aber umstritten

Freitag
Foto: Stephen Shepherd / plainpicture

Eines Tages rannte Klaus Becker* nur mit einer Unterhose bekleidet über den Gang. Verwirrt fragte er nach dem Ausgang. Wenige Wochen zuvor war der pensionierte Postbeamte in das Pflegeheim am Rand von Berlin gezogen, in ein Zimmer der geschlossenen Abteilung, Zugang nur mit Zahlencode. Der neue Alltag verwirrte den dementen Mann zusätzlich. Er konnte nicht mehr sagen, an welchem Ort er war, welchen Tag, welches Jahr man schrieb. Manchmal glaubte er, alles sei nur ein Kuraufenthalt. Seine Koffer waren immer gepackt, bereit für die Heimreise.

Doch dann trat eine Frau in Beckers Leben, die er heute nur „die andere Frau“ nennt. Eine dominante Erscheinung, 51 Jahre alt, kurzes Haar, herbe Gesichtszüge. Sie zog erst ihn aus, dann sich selbst, dabei sprach sie sanft auf ihn ein und streichelte ihn, bis er zum Orgasmus kam.

Die Frau heißt Stephanie Klee. Sie ist eine Hure, wie sie selbst sagt. Becker ist nicht der einzige Pflegebedürftige ihrer Kunden. Zehn weitere werden regelmäßig von ihr in Pflegeheimen besucht, einige sind zerstreut, andere bettlägerig. Nach Schätzungen des „Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen“ sind etwa zehn Kolleginnen deutschlandweit in ähnlicher Mission unterwegs.

Die Frauen kommen nicht nur für Sex, nicht „für den schnellen Fick“, wie Klee es formuliert. Sie nehmen zwischen 90 und 150 Euro die Stunde, dafür gibt es Zuneigung, Massagen und Streicheleinheiten. Und sie hören den Erzählungen über den Weltkrieg zu, über Fußballvereine und Kameradschaft. Damit stillen sie ein menschliches Grundbedürfnis: den Wunsch nach Aufmerksamkeit. Später telefonieren sie mit Angehörigen oder Pflegern, „die Nachbesprechung ist wichtig“, sagt Klee.

Nach dem Gesetz gelten diese Frauen als Prostituierte, doch sie selbst nennen sich Sexualbegleiterinnen. Bei Menschen wie Klaus Becker sorgen sie für den Höhepunkt im Zwei-Wochen-Rhythmus; bei Angehörigen, Pflegern und Heimleitern jedoch immer wieder für Streit.

Ein Pfleger kümmert sich

Konrad Roth* hat miterlebt, wie vorschnell andere über Klee gerichtet haben. Heute grinst er, wenn er daran denkt, wie sehr sie Becker verändert hat. „Sie vollbringt wirklich Wunder.“ Roth ist Pfleger auf der Station von Becker, er hilft ihm beim Anziehen, geht mit ihm Einkaufen, räumt seinen Schrank auf. An einem Sommertag fragte er ihn beim Spazierengehen, ob er sich nicht eine Freundin kaufen wolle.

Roth kümmerte sich nicht das erste Mal um das Liebesleben eines Bewohners. Er arbeitet seit zwölf Jahren als Pfleger, hat etliche Bewohner kommen und sterben sehen. Wenn seine Patienten weiße Mäuse sehen, verjagt Roth diese. Wenn sie eine Lampe für eine Blume halten, bewundert er sie. Er arbeitet lieber mit schwer Dementen als mit anderen Senioren. „Die können sich einfach nicht verstellen“, sagt er. „Sie mögen etwas und zeigen es. Oder sie finden etwas scheiße, dann zeigen sie es auch.“ Demente verlören auch oft alle Hemmungen. Sie zeigten dann deutlich, dass sie ein sexuelles Bedürfnis verspürten.

Die Sexualität alter Menschen und vor allem Pflegebedürftiger wird häufig verdrängt. Klee und Roth wollen dies ändern. Doch der Weg dahin ist schwierig. „Wer will schon wissen, ob seine eigenen Eltern noch Sex haben?“, fragt Klee. „Keiner.“ Und Konrad Roth ist sich aus seiner Erfahrung sicher: „Egal, wie stark jemand geistig abbaut, der Sexualtrieb bleibt.“

Sexualwissenschaftler bekräftigen seit Längerem, dass das Bedürfnis nach Nähe und Sexualität sich bis ins ganz hohe Alter zieht. Die Beratungsstelle Pro Familia hat eine Broschüre zu diesem Thema veröffentlicht, 36 Seiten über Orgasmusstörungen, Erektionshilfen und lesbische Neigungen. Da viele Heimbewohner ohne Partner leben und sich einsam fühlen, suchte Roth vor acht Jahren das erste Mal nach Prostituierten. Sie sollten mit einem Bewohner des Pflegeheims schlafen, der seine Sexualität nicht ausleben konnte und deshalb aggressiv wurde. Roth blätterte sich zwei Wochen durch Boulevardzeitungen. Er markierte dutzende Annoncen, rief in Clubs an, fragte bei Erotik-Pensionen nach. Am Ende hatte er ein einziges Bordell auf der Liste, dreißig Minuten Autofahrt entfernt. Roth sträubte sich. Nein, nicht mit einem Unberechenbaren durch die ganze Stadt. Nicht für Sex.

Schwierige Suche

Also zog er durch die Bordelle der angrenzenden Stadtteile. In einem Altbau klingelte er in der vierten Etage, „Annas Oase“. Kalter Zigarettengeruch schlug ihm entgegen. Eine Frau empfing ihn, zwei breitschultrige Männer musterten ihn vom Tresen aus. Bitte, nimm Platz, warte kurz, wir zeigen dir unsere Mädels. Nach und nach traten Frauen in das Zimmer, posierten im Halbkreis vor ihm. Zwanghaft lächelnde Gesichter, die Körper in knappem Zwirn. Sie verstrubbelten Roths Haar, streichelten ihn. „Aber keine hat geglaubt, dass ich stellvertretend für einen älteren Herrn suche.“

Dann, Mundpropaganda unter Kollegen, hörte Roth von Stephanie Klee. Sie hatte ihren ersten bezahlten Sex mit einem fremden Mann kurz nach dem Abitur. Später, als Verwaltungswirtin in Nürnberg, mietet sie sich zwischendurch in Bordellen ein. Heute ist sie Prostituierte, Sozialarbeiterin und Mediatorin. Seit 2010 besucht sie Kunden in Pflegeeinrichtungen. Eine Kollegin hatte sie darauf gebracht; sie erzählte von einem alten Herren, der sich nicht mehr waschen ließ, der biss und kniff. Die Pfleger weigerten sich, alleine das Zimmer zu betreten. Klee sagte: „Kein Problem, ich bin bereit, mit dem Personal zu reden und meine Dienste anzubieten. Ich kann einen Ausgleich schaffen.“

Klee trägt viel Grün, grünes Oberteil, grünen Mantel, grüne Armbanduhr. In einem Berliner Café erzählt sie, dass sie sich von jenem Tag an, als ihre Kollegin sie ansprach, für die sexuelle Selbstbestimmung von Senioren engagiert. Es ist ihre zweite große Mission. Schon Anfang der Nullerjahre stritt sie für die Rechte der Prostituierten. Sie sprach damals im Bundestag, reiste zu Hurenkongressen. Nun also die Senioren. Mitte Oktober veranstaltete sie im Roten Rathaus in Berlin eine Fachtagung mit dem Titel Sexualität in Einrichtungen. Knapp 100 Leute kamen, Sexualbegleiter, Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegekräfte. Klee ist noch heute von der Resonanz begeistert: „Schließlich hat jeder ein Recht auf Sex.“

Die Kolleginnen von Pfleger Roth reagierten zunächst geschockt, als sie von den Besuchen der Prostituierten hörten. Sie fanden es ekelhaft, warfen Klee vor, sie würde Becker nur ausnutzen. Oft stören sich auch die Kinder der Betreuten an den Sexualbegleiterinnen. Angefragt von Pflegern oder Betreuern, lehnen sie die Dienste häufig entschieden ab. „Sie übertragen ihre Moralvorstellungen auf andere“, sagt Roth. „Sie kommen oft nicht damit klar, dass ihre eigenen Eltern noch ein Sexualleben haben“, sagt Klee. „Oder sie denken an ihr Erbe.“ Eine Stunde mit Klee kostet 150 Euro. Für viele ein Luxus am Lebensabend.

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe, ein Verein, der die Selbstbestimmung im Alter stärken will, betont, wie wichtig Sexualität bis zum letzten Tag sei. Aber Sexualbegleiterinnen? Sie seien in Einzelfällen durchaus sinnvoll. Doch lieber sollten die Bewohner einen anderen Senioren finden, für Liebe, Nähe und Sex.

Klee und Becker treffen sich inzwischen alle zwei Wochen. Für Becker ist sie seine Geliebte. Er spaziert mit ihr stolz durch das Heim, stellt sie anderen Mitbewohnern vor. Bei ihrem letzten Besuch begrüßte er sie mit Handkuss. Willkommen, meine Liebe. In Hemd und Anzughose führte er sie zum Oktoberfest der Einrichtung. Sie aßen Kuchen, tanzten zu Schlagern, schunkelten und lachten. Irgendwann verschwanden sie für eine Stunde aufs Zimmer.

Beckers Koffer sind mittlerweile ausgepackt, die Hemden und Hosen liegen im Schrank. Manchmal, nach ihrer gemeinsamen Stunde, sucht Klee ihm ein schickes Hemd aus, hilft ihm beim Anziehen, und beide gehen noch einen Kaffee trinken. Pfleger Roth nennt das „Einsatznachbereitung“. Klee sagt, sie genieße einfach die Zeit mit dem alten Herrn.

* Namen von der Redaktion geändert

BerlinIntim, Ausgabe 06/2013 Oktover/November              download:   BerlinIntim

BERLIN taz, 14. 10. 2013

Debatte über Sexualbegleitung – Ein Recht auf Zärtlichkeit

In Berlin wird über Senioren, Behinderte und Sex diskutiert: auch Puffbesuche sind kein Tabu. Doch selbstbestimmte Sexualität bleibt abstrakt.

„Ich habe schon mein Studium mit Anschaffen finanziert“, erzählt die Dame auf dem Flur. Die Pausengespräche sind etwas gewöhnungsbedürftig auf dieser Fachtagung am Freitag im Roten Rathaus in Berlin. Es treffen sich Sexualbegleiterinnen, Behinderte, WissenschaftlerInnen und Angestellte aus Behinderten- und Altenheimen. Sie reden über Sex. Genauer gesagt: über „Sexualität in Einrichtungen“. Da geht es um peinliche Momente und die Frage, wie Sex eigentlich an solchen Orten stattfinden kann.

Ein Thema, das relativ neu ist. Jahrzehntelang war Konsens: Alte Leute haben keinen Sex mehr. Und Behinderte gelten ohnehin als so eine Art Neutrum. Erst 1992 wurde die Zwangssterilisation behinderter Frauen verboten. Dagegen kam es immer dann zu peinlichen Momenten, wenn der Sex dann trotzdem auftauchte.

Da masturbiert ein Mädchen mit Down-Syndrom auf einer Gruppenreise, und die Reiseleitung schickt sie schockiert nach Hause. Schwestern sehen sich beim Betreten des Zimmers mit einem masturbierenden Bewohner konfrontiert und wissen nicht so recht weiter. Oder ein leicht dementer älterer Herr fragt jedes weibliche Wesen, ob es nicht mit ihm ins Bett gehen will.

Inzwischen hat sich der Diskurs zu einem Konsens darüber entwickelt, dass alle Erwachsenen ein Recht auf Sex haben. Aber was kann das in Behinderteneinrichtungen und Heimen bedeuten? Zum einen, so der Mitorganisator der Tagung, der Sexualberater Matthias Vernaldi, der im Rollstuhl sitzt, bitte schön den Schutz der Privatsphäre: „Wenn die Schwester so ins Zimmer platzt, wenn ich mir gerade einen von der Palme wedle – so schnell kann ich gar nicht reagieren“, kritisiert er.

Zeiten, in denen das Zimmer für Schwestern und Pfleger tabu ist, sind gefragt. Und die Möglichkeit, das Zimmer auch mal abzuschließen. Aber ist es ok, wenn demente Leute sich in ihrem Zimmer verbarrikadieren? Wer haftet, wenn etwas schief geht oder die Verhütung nicht klappt?

Kein Konsens über die Praxis

Die in der Pflege immer asymmetrischen Machtbeziehungen können das Recht auf Sex empfindlich einschränken. In einer Demenz-WG wurde eine Gummipuppe angeschafft. Dann aber kam eine osteuropäische Pflegerin und versteckte das unanständige Ding ganz hinten im Schrank.

Aufgeschlossene Pflegekräfte organisieren ihren Bewohnern ab und an eine Sexualbegleitung. Problem: Das ist teuer. Die anwesenden Begleiterinnen auf der Tagung nehmen 150 bis 200 Euro pro Besuch. Und: Auf Sex sind Heime nicht eingestellt. Die Betten etwa, beklagt eine vollschlanke Begleiterin, seien oft nur 80 Zentimeter breit: „Versuchen Sie da mal, Spaß zu haben.“

Und Konsens herrscht über die Praxis der Sexualbegleitung keineswegs. Auf der einen Seite rühmen sich die Prostituierten, dass sie extra für die Sexualbegleitung qualifiziert sind und auch pflegerische Grundkenntnisse haben. Die Vorstellung etwa von Sexualbegleiterin Stefanie Klee, die die Tagung mitorganisiert hat, lautet: Am schwarzen Brett im Altenheim steht, dass Montags der Friseur kommt, Dienstags die Fußpflege und Mittwochs die Sexualbegleitung.

„Viele Behinderte wollen vor allem eine Partnerschaft“

Auf der anderen Seite sitzt etwa Matthias Vernaldi und will sich nicht auf einen Sexualstundenplan einlassen: „Das hat nichts mehr mit sexueller Selbstbestimmung zu tun“. Aus seiner Beratung weiß er: „Viele Behinderte wollen vor allem eine Partnerschaft. Wenn man dann die realistischen Möglichkeiten durchgeht landet man am Ende bei der Sexualbegleitung, mehr oder weniger unfreiwillig.“ Er persönlich rate aber eher zum Puffbesuch: „Das ist billiger und wenn man vorher ein kleines Gespräch führt, können die meisten Huren damit durchaus umgehen“.

Klar wird: Das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, das etwa auch in der Behindertenkonvention festgelegt ist, ist zunächst erstmal nur abstrakt in den Einrichtungen angekommen. Konkret aber gibt es noch viel zu tun und zu bedenken. So erzählt ein Teilnehmer von den beiden dementen Herren, die sich auf ihre alten Tage ineinander verliebt hatten. Gerade bei Demenz, das bestätigen viele hier, wirkt Sex außerordentlich belebend.

Das ganze Heim war entzückt von der Liebesgeschichte. Aber die Tochter des einen Herrn nicht. Entsetzt forderte sie das Heim auf, die Homo-Beziehung zu unterbinden. Als die Heimleitung sich weigerte, nahm die Tochter ihren Vater aus dem Heim und brachte ihn woanders unter. Nicht nur die Einrichtungen haben zu lernen.

Heide Oestreich

Weitere Pressestimmen und sonstiges zum Thema:

Beitrag von Stephanie Klee zur Sitzung des Runden Tisches Prostitution in NRW am 10. 04. 2014 – zum Thema „Sexualbegleitung/-assistenz“
Sexualassistenz: – nur ein Segment der Prostitution oder mehr? –
Download: SexualassistenzRunderTischNRW

WAZ 18.11.2013