Rachel zu Besuch II – Bitte keine „zertifizierte Hure“

Ich war ja der andere Teil der Experten, die 2013 den Film von Rachel Wotton  (zu deutsch: „Rachels Weg“) während des Filmfestivals „Überall dabei“ von Aktion Mensch durch die Kinos begleitete.

Dieser Film war immer wieder ein Aufhänger für interessante Diskussionen und hat bei vielen Zuschauern auch das Bild von Prostitution verändert (zumindest Programm dazu bei).

Doch schon damals habe ich vieles kritischer gesehen als Stephanie. Ich fand immer, dass es Rachel nicht ausreichend gelungen ist, die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderungen in Australien mit einzubeziehen.

Und auch der Idee der Weiterbildung stehe ich nach vier Jahren immer noch ziemlich kritisch gegenüber. Vielleicht liegt es daran, dass ich keine Sonderbehandlung haben möchte. Um es mal böse zu sagen: Jeder Spacko kann in den Puff gehen oder sich im Netz nach einem Escort ungesehen. Wenn ich das mache, braucht die Sexarbeiterin erst einmal eine Ausbildung.

Nein, verdammt noch mal! Ich will meine Lust und mein Begehren mit dieser Frau umsetzen und sie erregen können. Da frage ich doch nicht nach einem Behindertenzertifikat. Ist mir völlig egal, ob sie eins hat, wenn ich von ihr hingerissen bin.

Freilich – ich bin ein Premiumbehinderter. Ich kann reden, lebe unabhängig in meiner Wohnung und verfüge über meinen Alltag und meinen Körper, weil ich ausreichend Assistenz bekomme. Menschen, die sexuelle Dienste buchen möchten, aber in einem Heim leben müssen, die vielleicht auch noch stark in der Kommunikation eingeschränkt sind, spielen noch mal in einer anderen Klasse. Auch sexuelle Kontakte müssen für sie von den Personen gemacht werden, die sie betreuen: Angehörige oder bezahlte Mitarbeiter. Da ist es gut zu wissen, dass man eigens dafür ausgebildete Leute buchen kann.

In meiner Funktion als Sexualberater vermittele ich solche Anfragen gelegentlich mit Sexualbegleitern*innen, weist jedoch mit Sexarbeiter*innen,  die in „ganz normal“ in Bordellen oder Agenturen oder selbstständig tätig sind. Unter den Klienten gibt es Autisten oder Menschen, die auf einer Intensivstation liegen und schon 40 Jahre beatmet werden. Es hat immer gereicht, eine Frau (manchmal auch einen Mann) zu finden, die/der dafür offen ist und mit ihr/ihm eine Runde über die speziellen Gegebenheiten des Kunden zu sprechen.

Behinderung ist ein sehr weites Feld. Mir fällt es ziemlich schwer, so ohne weiteres in einem solchen Topf gekocht zu werden. Wenn ich bei Karstadt am Hermannplatz in Berlin in der Lebensmittelabteilung mir irgend ein besonderes Stück Fisch besorge und pinkeln muss, nutze ich die Herrentoilette im Keller. Mein Rollstuhl passt durch die Türen. In meinem Fall reicht das. Jedes Mal sagt die Klofrau mit vorwurfsvoller Miene: „Wir haben im 4. Geschoss aber auch ein Behindertenklo!“ Aber verdammt noch mal: Warum soll ich eine halbe Weltreise machen, wenn ich hier genauso gut pissen kann?

Im Puff ist mir das auch schon ein paar mal passiert. Da bekam ich dann zu hören, dass für „sowas“ extra ausgebildete Frauen da wären, die ich dann buchen könne…

Matthias Vernaldi

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